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Das Gewissen – noch ein Thema für den Religionsunterricht?

Religionsdidaktische Reflexionen und Perspektiven

Auf den ersten Blick erscheint es ganz selbstverständlich: Das Gewissen muss einen festen Platz im Religionsunterricht einnehmen, namentlich im evangelischen Religionsunterricht! Doch schon bald stellen sich Fragen ein, in der Praxis ebenso wie in der Theorie. Denn die Thematik erweist sich theologisch ebenso wie didaktisch als so komplex, dass sie im Unterricht kaum einzufangen sein wird. Namentlich in den Zeiten der Kompetenzorientierung erscheint es fraglich, was da eigentlich genau gelernt werden kann.

schematisierte Zeichnung: Engel und Teufel ziehen an einer Person.
Gutes und schlechtes Gewissen , © snygggpix/shutterstock.com

aus: Entwurf Nr. 4 / 2021

Gewissen

  • Fachwissen
  • Schuljahr 1-13
Thema Mensch, Welt & Verantwortung Autor/in Friedrich Schweitzer Veröffentlicht 01.12.2021 Aktualisiert 25.08.2022

Friedrich Schweitzer

Religionsdidaktische Reflexionen und Perspektiven

Auf den ersten Blick erscheint es ganz selbstverständlich: Das Gewissen muss einen festen Platz im Religionsunterricht einnehmen, namentlich im evangelischen Religionsunterricht! Doch schon bald stellen sich Fragen ein, in der Praxis ebenso wie in der Theorie. Denn die Thematik erweist sich theologisch ebenso wie didaktisch als so komplex, dass sie im Unterricht kaum einzufangen sein wird. Namentlich in den Zeiten der Kompetenzorientierung erscheint es fraglich, was da eigentlich genau gelernt werden kann.

Widersprüchliche Ausgangspunkte: Zugänglichkeit der Gewissenserfahrung Luther-Bilder in der Kritik Zurückhaltung im Bildungsplan
Alle Menschen wissen offenbar, was „Gewissen bedeutet. Jedenfalls geht beispielsweise die Werbung davon aus etwa bei der seit den 1970er Jahren Kult gewordenen Werbung für das „reine Gewissen bei Entscheidung für das Waschmittel Lenor1 und heute bei der „Gewissensfrage beim Einkauf im Internet, die durch die Nutzung des richtigen Anbieters (shöpping.at) eine Antwort finde2. Auch Kinder, deren Vokabular den Begriff noch nicht einschließt, kennen die Erfahrungen, die mit einem schlechten Gewissen einhergehen (etwas ist kaputt gegangen: „Ich war es nicht!; die Mutter angelogen; bei der Klassenarbeit abgeschrieben ). Ist das Gewissen nicht geradezu prädestiniert als Thema für einen Unterricht, der theologische Themen schülerorientiert erschließen will?
„Hier stehe ich und kann nicht anders! Gott helfe mir, Amen! So soll Martin Luther seine berühmte Verteidigungsrede beim Reichstag zu Worms 1521 beschlossen haben ausdrücklich unter Berufung auf sein Gewissen. Welche Vorbildwirkung davon ausgehen kann, ist vermutlich nicht nur meiner eigenen Kindheitserinnerung zu entnehmen. Was für ein gewaltiger Held! Nur: Mit größter Wahrscheinlichkeit hat sich Luther beim Reichstag zwar auf sein Gewissen berufen, aber er hat die ihm später zugeschriebenen Worte wohl nicht gesprochen.3 Ein Unterricht, der wissenschaftlich auf der Höhe der Zeit sein will, wird sich kaum mehr dieses Luthers bedienen können, trotz aller evangelischer Archetypik, die diese Szene in der Tradition gewonnen hat. Ohnehin war eine solche Stilisierung Luthers zum freiheitsbewussten Gewissenshelden theologisch nie legitim. Auch wenn er sich beim Reichstag auf sein Gewissen beruft, geht es ihm dabei nicht einfach um eine unhintergehbare Instanz individueller Freiheit. Vielmehr spricht er davon, dass sein Gewissen durch die heilige Schrift „überwunden werden könne und er selbst „durch Gottes Wort gefangen sei.
Entsprechend zögerlich erweist sich auch der Bildungsplan für den evangelischen Regionsunterricht (Baden-Württemberg). Im Bildungsplan für die Grundschule kommt der Begriff Gewissen nicht vor. Im Bildungsplan für das Gymnasium wird der Begriff im Bereich der Ethik aufgenommen („Die Schülerinnen und Schüler setzen sich mit Entscheidungskriterien und -instanzen für gerechtes Handeln auseinander, 3.2.2) und wird die Erwartung formuliert: „anhand von Fallbeispielen die Aufgabe des Gewissens analysieren, wobei Luther bei den Fachbegriffen aufgeführt wird. In der Oberstufe (3.5.1) taucht der Begriff Gewissen im Zusammenhang von Menschenbildern noch einmal auf, wiederum als möglicher Fachbegriff. Mehr ist hier nicht zu finden, auch nicht beim Thema Reformation (3.2.6). Als zentrales Thema kann die Gewissensfrage demnach nicht (mehr) gelten wobei die im katholischen Bildungsplan Gymnasium (3.3.2) beschriebene Kompetenz „das Verständnis des Gewissens als letzte Instanz erläutern noch etwas von den in der theologischen Tradition zu findenden konfessionellen Prägungen des Gewissensverständnisses anklingen lässt.
Friedrich+ Religion

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